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euchend erreichten sie die Spitze der Pyramide, wo sie eine riesige Kristallinse erwartete, ein Sehglas, das sich auf einem goldenen Dreifuß langsam im Wind drehte, ein gewaltiges Auge, mit dem man weit entfernte Dinge sehen konnte.
Im Westen ging, in Wolken erstickt, die Sonne
unter. Downground jubelte:
»Da geht sie hin. Das Herz, der Leib, die Seele von Halloween. Die
Sonne! Osiris wird wieder ermordet. Mithras, das Feuer der Perser,
ist sterbensmatt. Phoebus Apoll, das Licht über Griechenland, sinkt
dahin. Sonne und Feuer, Jungs. Seht es euch an, riskiert einen
Blick. Dreht das Fernglas zur Mittelmeerküste, tausend Meilen von
hier. Seht ihr die griechischen Inseln?«
»Ja«, sagte George Smith, der als schmuckes, bleiches Gespenst
verkleidet war. »Städte, Dörfer, Straßen, Häuser. Die Leute stellen
Essen auf ihre Schwellen.«
»Ja.« Downground strahlte. »Das ist ihr
Fest der Toten: Das Fest der Schüsseln.
›Was Schönes her, sonst hexen wir‹, wie es früher war. Nur daß es
die Toten waren, die gehext haben, wenn man ihnen nichts gegeben
hat. Und darum richtet man ihnen ein Bankett auf der Türschwelle
an.«
Weit entfernt, im warmen Licht der Sonnenuntergänge, stieg der
Geruch von gekochtem Fleisch auf. Man stellte Schüsseln auf für die
Toten, die wie Duftschwaden über das Land der Lebenden zogen. Die
Frauen und Kinder in Griechenland brachten ihnen große Mengen
köstlicher, gewürzter Speisen dar.
Doch dann wurden überall auf den griechischen Inseln krachend die
Türen verriegelt. Der dunkle Wind trug den Jungen das hallende
Donnern zu.
»Die Tempel werden fest verschlossen«, sagte Downground. »Jeder
heilige Ort in Griechenland wird heute nacht abgeschlossen und
verriegelt.«
»Seht mal!« Ralph die Mumie drehte die Linse in eine andere
Richtung. Licht glitt dabei über die Masken der Jungen. »Warum
streichen die Leute ihre Türpfosten mit schwarzem Zuckersirup
ein?«
»Mit Teer«, korrigierte ihn Downground. »Damit die Geister daran
kleben bleiben und ganz sicher nicht ins Haus kommen
können.«
»Warum ist uns das nicht eingefallen?«
fragte Tom.
Dunkelheit kroch über die Küsten des Mittelmeers. Aus den Gräbern
stiegen die Geister auf wie Nebel und wehten in rußig-schwarzen
Schwaden durch die Straßen, bis sie mit den teerbeschmierten
Türpfosten in Berührung kamen und nicht mehr weiterkonnten. Der
Wind jammerte, als erzählte er von der Qual der gefangenen
Toten.
»Und jetzt Italien. Rom.« Downground drehte die Linse in Richtung
der römischen Friedhöfe, wo man Speisen auf die Gräber stellte und
sich darauf eiligst davonmachte.
Der Wind riß an Downgrounds Umhang. Er blies ihm die Backen
auf:
Wenn Herbstwind bläst und wütend weht, Und sich die Welt ins Dunkle dreht, Dann komm, o Sturm, zerreiße mich, Zu bunten Blättern wandle mich!
Er tat einen Luftsprung. Die Jungen schrien begeistert, als seine Kleider, Haare, Glieder, sein Umhang, seine Haut und die maisbleichen Knochen sich vor ihren Augen auflösten.
… weht … dreht …… zerreiße … wandle mich …!
Der Wind zerriß ihn zu Konfetti. Eine Million Herbstblätter – golden, braun, blutrot, rostrot – tanzten wild durcheinander, raschelnd, flirrend: hier ein Schwarm Eichen- und Ahornblätter, da ein Gestöber von Walnußbaumblättern, dort ein Schauer aus Flüstern, Gemurmel, Geraschel am dunklen Himmel über dem Bach. Nicht ein Drachen, sondern zehntausendmal zehntausend winzige Drachen aus Mumienflocken wirbelten durcheinander. Downground zerstob.
Welt dreht! Wind weht! Gras liegt! Baum … fliegt!Und von einer Milliarde Bäume in herbstlichen Landstrichen kamen Blätter herbeigeflogen, um sich mit den von einem Wirbelwind hoch in die Luft gewehten trockenen Flocken zu vermischen, die eben noch Downground gewesen waren. Aus der Blätterwolke erklang brausend seine Stimme:
»Seht ihr die Feuer an der Küste des Mittelmeers? Und die Feuer weiter nördlich, in ganz Europa? Angstfeuer. Freudenfeuer. Wollt ihr sie genau sehen? Dann kommt, fliegt mit!«
Und die Blätter stürzten sich wie schreckliche, flatternde Motten auf die Jungen und trugen sie davon. Über der ägyptischen Wüste sangen, kicherten und lachten sie. Über dem fremden Meer segelten sie verzückt und hingerissen wie die Schwalben dahin.
»Frohes neues Jahr!« rief eine Stimme von weit
unten.
»Frohes neues was}« fragte Tom.
»Frohes Neues Jahr!« Downground, ein Schwarm aus rostroten
Blättern, ließ seine Stimme rascheln. »Früher begann das Jahr am
ersten November. Das war das eigentliche Ende des Sommers und der
kalte Anfang des Winters. Eigentlich kein Grund zur Freude – aber
trotzdem: Frohes neues Jahr!«
Sie überflogen Europa und sahen vor sich ein neues Meer.
»Dort ist Britannien«, flüsterte Downground. »Wollt ihr mal einen
Blick auf den Totengott der Druiden werfen?«
»Na klar!«
»Dann seid sanft wie Wolfsmilch, sacht wie Schnee, rieselt hinab in
den weichen Klee …«
Die Jungen begannen zu fallen.
Wie eine Handvoll Kastanien kullerten sie auf die Erde.